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Zwischenergebnisse - Lernforschung


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Forschungsfragen
Empirischer Forschungsstand
Theoretischer Zugang
Empirische Erhebung
Auswertungsvorgehen
Ergebnisse
Literatur


 

Forschungsfragen

Im Projekt SYLBE fragen wir uns:

  1. Welche Lernbarrieren und -widerstände dazu führen, dass Menschen die Aneignung grundständiger Fähigkeiten wie das Lesen und Schreiben abbrechen? Welche guten Gründe gibt es, nicht Lesen und schreiben zu lernen?
  1. Warum nehmen funktionale Analphabeten diesen Lernprozess (in Form eines Alphabetisierungskurses) wieder auf? Welche guten Gründe gibt es, Lesen und Schreiben zu lernen? Damit verbunden ist die Frage nach Lernanlässen und Lernstrategien.

Gegenstandsbegründet – also anhand erster empirischer Auswertungsschritte – kann die dritte Forschungsfrage folgendermaßen formuliert werden:

  1. Auf welche Weise tangieren gesellschaftliche Inklusionsprozesse das Lernen funktionaler Analphabeten?

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Empirischer Forschungsstand

Unser Forschungsprojekt schließt an vorhandene Studien im Bereich der Erwachsenenalphabetisierung an. Sowohl die ersten Arbeiten von Marie-Luise Oswald, Horst-Manfred Müller (1982) und Marion Döbert-Nauert (1985) als auch weiterführende Studien von  Lisa Namgalies (1990), Birte Egloff (1997), Harald Wagner/Johanna Schneider (2008) und Andrea Linde (2008) dienen uns bei der Erforschung des Lernprozesses funktionaler Analphabeten als wichtige Analyserahmen.

In der Arbeit von Oswald/ Müller (1982) wird eine „Intensivbefragung“ funktionaler Analphabeten durchgeführt, mittels derer  „Entstehungsbedingungen, die aktuelle Lebenssituation und das Lerninteresse der Analphabeten beleuchtet werden“ (Oswald/Müller 1982, S. 2). Anhand eines detailliert strukturierten Fragebogens erfassen Oswald und Müller umfangreiche Sozialdaten, die berufliche Situation, den schulischen Werdegang, die außerschulische Situation in Kindheit und Jugend sowie die aktuelle Lebenssituation funktionaler Analphabeten und werten diese auf der Basis von Thesen (z.B. „Nicht selten ist der Lebensweg von Analphabeten durch traumatische Erlebnisse in Kindheit und Jugend gekennzeichnet“ ebd., S. 32) aus. Die Interpretation der biographischen Daten erfolgt dabei „auf dem Hintergrund mehrjähriger Erfahrung“ (ebd., S. 2). Als ein zentrales und universelles Moment der Studie können die Kumulation negativer soziodemographischer Faktoren (u.a. Armut) und die darauf basierende Aufschichtung von Negativerfahrungen (u.a. in Schule und Beruf) betrachtet werden. Hinsichtlich der Lerninteressen funktionaler Analphabeten stellen Oswald und Müller die zentrale These auf, dass diese sich vorrangig aus den „erlebten Ohnmachts- und Abhängigkeitsgefühlen gegenüber Behörden und Privatpersonen“ (S. 84) ableiteten und belegen diese ‚Vermutung‘ anhand von Interview-Aussagen.

Auch die Untersuchung von Döbert-Nauert (1985) basiert auf langjährigem Erfahrungshintergrund und knüpft an die Studie von Oswald und Müller an. Anhand „erfahrungsbegründeter Hypothesen“ (Döbert-Nauert 1985, S. 2) werden strukturierte Gespräche mit funktionalen Analphabeten durchgeführt.  Im Interview gibt es sowohl einen narrativen Gesprächspart als auch einen Impuls-Bewertungs-Teil, in welchem sich die Interviewten zu verschiedenen Statements – bezogen auf die Ursachen ihrer Schriftsprachprobleme, auf die Bedeutung der Schriftsprache u.a. – äußern sollen. Auch bei Döbert-Nauert stellen die vielfältigen Negativerfahrungen in Elternhaus, Schule und anderen Bereichen sowie deren kumulierte Aufschichtung das zentrale Ergebnis dar. Darauf begründet plädiert sie für eine stärkere Berücksichtigung des (negativen) Selbstbildes in der Erwachsenenalphabetisierung: „Solange das biographisch gewachsene Selbstbild – charakterisiert durch einen Mangel an Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten – solange dieses Selbstbild und damit verbundene Angst und Vermeidungsstrategien nicht stärkere Beachtung in der Entwicklung von Konzepten zur Alphabetisierung finden, geht die Alphabetisierung an der Realität der Betroffenen vorbei“ (ebd., S. 116).

In der Studie von Namgalies (1990) werden ebenfalls mehrere Lebens- und Lerngeschichten funktionaler Analphabeten – diesmal mittels loser strukturierter Gespräche (vgl. Namgalies 1990, S. 16) – untersucht. Ihr ging es darum, dass die Interviewten die „Gelegenheit erhalten sollten, aus ihrer Sicht zu schildern, wie es dazu kam, dass sie nur unzureichend lesen und schreiben gelernt haben“ (ebd., S. 16). Diesbezüglich stellt sie offene Fragen zur familiären und schulischen Situation sowie zum beruflichen Werdegang und zur Motivation des (Wieder-)Erlernens der Schriftsprache. Auch Namgalies bestätigt die vorangegangene Erkenntnis, dass komplexe biographische Negativerfahrungen zu Analphabetismus und zu einem negativen Selbstbild führen (ebd., S. 128 f.). Die Motivationshintergründe für die Wiederaufnahme des Lernprozesses fasst sie unter den vier Gesichtspunkten „Erfahrungen mit der Erwerbstätigkeit, Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit, Wunsch nach Unabhängigkeit und Motivierung durch andere Personen“ (S. 95 f.) zusammen.

Im Gegensatz zu den genannten Studien verzichtet Egloff (1997) auf strukturierte Gespräche und führt autobiographisch-narrative Interviews nach Fritz Schütze und analysiert sie mittels kognitiver Figuren (vgl. Egloff 1997, S. 18 ff.).  Ihre Fallanalysen orientieren sich an der Grounded Theory als Methodologie. Ihre zentrale Fragestellung lautet: „Welche Konstellationen im Leben von Menschen können Lese- und Schreibunkundigkeit fördern, und welche Bewältigungsstrategien entwickeln  diese Menschen, um mit dem Lese- und Schreibproblem im Alltag zurechtzukommen?“ (ebd., S. 14).  In ihrem theoretischen Ablaufmodell (S. 113 ff.) konstatiert Egloff jene „Bedingungsfaktoren“, die auch in vorherigen Studien eine Rolle spielten: So sieht sie ungünstige Sozialisationsbedingungen als eine wesentliche Ursache dafür, dass der „Lese- und Schreiblernprozeß“ nicht stattfindet (vgl. ebd., S. 129) und stattdessen Vermeidungsstrategien (u.a. Täuschen) als Form der Alltagsbewältigung von den funktionalen Analphabeten genutzt werden. Hinsichtlich der Motivlagen für den (Neu-)Beginn eines Lernprozesses stellt Egloff neben dem Wunsch nach Unabhängigkeit und beruflichen Gründen auch die „Einschnitte im Lebens- und Familienzyklus“ (ebd., S. 167) heraus.

Ein anderes Untersuchungsmodell legen Schneider und Wagner (2008) zugrunde. Sie stellen die Lebensweltforschung zu Erfahrungen und Deutungsmustern funktionaler Analphabeten auf ihre Agenda. Ziel dieser Arbeit ist es, das lebensweltliche Wissen funktionaler Analphabeten für die Sozialintegrative Alphabetisierungsarbeit zu rekonstruieren (vgl. Schneider/Wagner 2008, S. 62). Dabei führen sie biografisch-narrative Interviews mit betroffenen Menschen durch und werten diese mithilfe des Verfahrens der Grounded Theory aus. Als heuristische Interventionen beziehen sie das bindungstheoretische Konzept der ,Adressabilität’ (Schleiffer 2005) und die ,Theorie der Psychodynamik des Schreibens’ (Löchel 2006) mit ein. Ein zentrales Ergebnis ihrer Analysen gibt Aufschluss über die Ursachen des funktionalen Analphabetismus: „In unserer Forschung weisen alle Beispiele darauf hin, dass mit der Kategorie ,Beziehung und Adresse’ das zentrale Muster zur Entstehung des Funktionalen Analphabetismus gegeben ist.“ (Wagner/Schneider 2008, S. 53) Offenbar schlägt sich die Erfahrung, keine sichere und wichtige Adresse zu sein, auf den Schriftspracherwerbsprozess nieder. Im dazugehörigen Beitrag von Harald Wagner sind diese Forschungsergebnisse sozialstrukturell eingebettet und in einem Erklärungsmodell zusammengeführt. Dies bildet folgende Zusammenhänge ab: „Personen steigen mit ihren je unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen in Bildungsprozesse ein“, „Die soziostrukturelle Einbindung in Milieus […] wirkt sich hingegen nachhaltig differenzierend aus Bildungserfolge aus“ (Wagner 2008, S. 28). Bis hierhin sei die Alphabetisierungswahrscheinlichkeit allerdings noch nicht festgelegt. „Dies erfolgt erst mittels elementarer Bindungserfahrungen in der primären Sozialisation.“ (ebd. S. 28) Schulische Erfahrungen wirken dann im weiteren Sozialisationsverlauf verstärkend oder korrigierend. So kann letztendlich eine Reihe negativer Erfahrungen eher zu funktionalem Analphabetismus führen: „Wer also aus einem unterem Milieu stammt, mit wenig Kapital ausgestattet ist, in seiner Familie starke Ablehnungserfahrungen machen musste und nun in der Schule negativ als bildungsunwillig/bildungseingeschränkt etikettiert wird, steht signifikant in der Gefahr, als funktionaler Analphabet die Schule zu verlassen.“ (ebd. S. 28)

Einen subjektwissenschaftlichen Zugang wählt Andrea Linde (2008) in ihrer empirischen Studie über das Lesen- und Schreibenlernen im Erwachsenenalter. Mit Ihren leitfadengestützten und erzählgenerierenden Interviews „wird versucht, dem lebenspraktischen Zusammenhang des Lernhandelns nachzugehen, da die Vermutung plausibel erscheint, dass das Verständnis von Literalität und Lernen den Prozess des Lesen- und Schreibenlernens beeinflusst.“ (Linde 2008, S. 109). Die Interviewauswertung mit Hilfe der Grounded Theory ergab drei Kernkategorien: Habitus, Literalität und Lernen (vgl. ebd., S. 117). Habitus und Lernen stehen dabei vor allem unter lernbiografischer Perspektive in einem engen Verhältnis: Die von den Betroffenen biografisch erfahrenen Vernachlässigungen im Elternhaus  setzten sich in der Schule fort und wirkten zusammen mit entstandenen Ängsten negativ auf das Lernen (vgl. S. 176). Umso mehr schätzten Alphakursteilnehmer die Andersartigkeit des Lernens in der Erwachsenenbildung und forderten im Kursverlauf mehr Selbstbestimmung ein (vgl. ebd. S. 177). Die Bedeutsamkeit der Schriftsprache als Unterkategorie von Literalität wird von Linde als heterogen beschrieben, da diese kontextabhängig sei, jedoch die Folgen des Nichtlesen- und Schreibenkönnens als „negativen Einflussfaktor“ erfahren würden (ebd. S. 172). „Lesen und Schreiben wird als notwendig erachtet, um den verschiedenen anderen Herausforderungen des Alltags gewachsen zu sein und an der Gesellschaft teilhaben zu können.“ (ebd. S. 172).

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Theoretischer Zugang

Der vorgestellte Forschungsstand bildet einen wichtigen Ausgangs- und Bezugspunkt für die Untersuchung im Projekt SYLBE. Vor dem Hintergrund biographischer Negativerfahrungen, eines mehr oder minder negativ entstandenen Selbstbildes und erster Erkenntnisse zu den Motivlagen für die Wiederaufnahme des Lese- und Schreiblernprozesses geht es in unserer Untersuchung speziell um die Entfaltung der (bereits angedeuteten) lerntheoretischen Perspektive. Die subjektwissenschaftliche Betrachtungsweise nach Klaus Holzkamp (1993) erlaubt uns, den Lernprozess aus dem Blickwinkel der Lernenden zu betrachten und deren Motive für, gegen und innerhalb eines Lernprozesses zu verstehen. Dabei handelt es sich nicht um die ‚bloß‘ individualistische Sicht des Lernenden, sondern um das gesellschaftliche Subjekt, welches über gesellschaftliche Bedeutungen mit der Umwelt in direkter Beziehung und Wechselwirkung steht; Bedeutungen (z.B. Schrift) stellen Handlungsmöglichkeiten dar und menschliches Handeln verwirklicht wiederum Bedeutungen.  Dabei bedarf es „guter Gründe“, so und nicht anders zu handeln und damit Bedeutungen zu realisieren. Dem Anderen mache ich mich dadurch verständlich, dass ich ihm meine Gründe für mein Handeln aufzeige (vgl. Holzkamp 1993, S. 22-26).

Holzkamp überträgt diesen allgemeinen Standpunkt des Subjekts auf das lernende Subjekt und grenzt das Lernhandeln gegenüber generellem Handeln ab. Den Ausgangspunkt bildet dabei eine vom Subjekt „ausgegliederte Problemsituation“, welche auf herkömmliche Weise (z.B. vermeiden, delegieren) nicht mehr überwunden werden kann. Der Lerngegenstand, welcher dem Subjekt auf der Weltseite gegenübersteht, kann zunächst eine „Diskrepanzerfahrung“ auslösen, d.h.  der Lernende erlebt eine Widersprüchlichkeit zwischen dem, was er bereits gelernt hat und dem Lerngegenstand. „Vorgelerntes“ reicht zur Bewältigung dessen nicht (mehr) aus. Daraus können Gefühle des Ungenügens (Frust, Beunruhigung, Angst) resultieren. Um diese „emotionale Komplexqualität“ aufzulösen, muss der Lernende seine „Handlungsbeeinträchtigungen“ herausfinden und diese als spezifische Lernproblematik „ausgliedern“ (vgl. ebd., S. 211 ff.).

Dabei spielt es eine Rolle, inwieweit der potentielle Lerngegenstand überhaupt die Möglichkeit für einen intensiven, tiefgründigen Lernprozess bietet. Holzkamp unterscheidet an dieser Stelle zwischen „Flachheit“ und „Tiefe“ eines Lerngegenstands.  „Von der „Tiefe“ des Lerngegenstands ist es abhängig, wieweit ich bei seiner lernenden Aufschließung in verallgemeinerte Bedeutungszusammenhänge eindringen kann: je mehr Tiefenstruktur der Lerngegenstand besitzt, je allgemeiner sind seine Verweisungen auf umfassendere Bedeutungszusammenhänge“ (ebd., S. 222). Besitzen die Bedeutungsstrukturen des Lerngegenstands also „in sich mehrere Vermittlungsebenen“, dann sind Holzkamp zufolge „qualitative Lernsprünge“ unabwendbar (vgl. ebd., S. 239). Das lernende Subjekt wird an der Stelle, wo Widerstände auftauchen, sein bisheriges „Lernprinzip“ reflektieren und im Zuge dessen ein neues Prinzip zum Weiterlernen entwickeln. Dieser Lernsprung ist für Holzkamp der entscheidende Wendepunkt von einem defensiven zu einem expansiven Lernen (vgl. ebd., S. 240 ff.). Das bedeutet, dass eine „Lernhandlung“ vom Lernenden „ausgliedert“ und eine „Lernschleife eingebaut“ wird. Die Handlungsproblematik (z.B. nicht schreiben können) wird zur „Bezugshandlung“ für die Lernhandlung (vgl. ebd., S. 182-183). Das Subjekt übernimmt sozusagen bewusst die eigene Problemsituation als Lernproblematik, wodurch es sich selbst neue Perspektiven eröffnet: „Es gilt […], der Handlungsproblematik bei der Überführung in eine Lernproblematik durch Dezentrierung, Standpunktwechsel, gedankliche Variation o.ä. neue Aspekte zur Überwindung meiner Festgefahrenheit abzugewinnen“ (ebd., S. 184).

Dies geschieht Holzkamp zufolge jedoch nur, wenn der Lernende jene Problematik mit seinen „Lebensinteressen“  bzw. „Lerninteressen“ in Einklang bringen kann. Diese menschlichen Lebensinteressen weist Holzkamp als „emotional-motivationale Qualität von Handlungsbegründungen“ aus, weil sie speziell für ihn bedeutsam sind (vgl. ebd., S. 189). Erhofft sich der Lernende anhand seines lernenden „Weltaufschlusses“ mehr Handlungsmöglichkeiten und damit soziale Teilhabe realisieren zu können, ist sein Lernen expansiv ausgerichtet. Geht es Lernern ‚lediglich‘ um die Abwehr einer Bedrohung (z.B. Job-Verlust, Geldeinbußen), sind sie also gezwungen zu lernen, weil sonst ihre Lebensqualität bedroht ist, ist ihr Lernen eher defensiv  ausgerichtet (vgl. ebd., S. 190 ff.). Holzkamp sieht im defensiven Lernen jedoch auch eine bestimmte Dynamik: „Das bewusste „Verhalten“ zu dem Umstand, dass ich angesichts einer bestimmten Bewältigungs-/Lernproblematik nur defensiv zu lernen imstande bin, eröffnet mir […] perspektivisch die Alternative der Lernverweigerung oder der […] Gewinnung eines umfassenderen Zugangs zum Lerngegenstand, also von Möglichkeiten expansiv begründeten Lernens in Austragung des Konflikts mit den meine Verfügung/ Lebensqualität bedrohten Machtinstanzen bzw. deren strukturelle Abkömmlinge“ (ebd., S. 193).

Darüber hinaus steht der Lernende immer auch in einem biographischen Zusammenhang, d.h. seine Fähigkeit zu lernen, ist von seiner zeitlichen und geschichtlichen „Befindlichkeit“ abhängig. Ob sich das Subjekt dies oder jenes aneignet, hängt mit seinen biographisch erfahrenen Möglichkeiten und Beschränkungen zusammen. Das Subjekt kann sich dem Gegenstand immer nur innerhalb seiner personalen Grenzen nähern. Dabei macht es keinen Sinn, dass er sich mit einem Lerngegenstand beschäftigt, der nicht in seinen lebenspraktischen Bedeutungszusammenhängen passt. Holzkamp bezeichnet diesen Standort als „Personale Situiertheit“ (vgl. ebd., S. 263 ff.).

Mittels dieser kurzen Skizze soll unser lerntheoretischer Zugang – unter Berücksichtigung bisheriger Studien und Erkenntnisse – transparent geworden sein.

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Empirische Erhebung

Wir haben insgesamt 21 problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) mit Menschen geführt, die trotz des Schulbesuchs in Deutschland Schwierigkeiten mit der Schriftsprache haben und an Alphabetisierungskursen teilnehmen. Der Kontakt konnte einerseits über engagierte Kursleiterinnen und Kursleiter hergestellt werden. Andererseits haben wir Kursteilnehmer und Kursteilnehmerinnen direkt angesprochen und für ein ausführlicheres Gespräch gewinnen können.

Da unsere Forschungsfragen auf die subjektiven Begründungen der Alphabetisierungskursteilnehmer abzielen, bieten sich als methodischer Zugang Problemzentrierte Interviews an. Diese sind durch einen Leitfaden inhaltlich grob strukturiert, lassen dennoch genug Spielraum für neue Aspekte zu, die von den Gesprächspartnern aufgeworfen werden. Es wird zunächst mit einer erzählgenerierenden Einleitungsfrage begonnen, die durch ihre Offenheit Narrationen ermöglicht. Durch gezieltes Nachfragen entsteht ein Induktiv-deduktives Wechselspiel während des Interviews.

Tabelle 1 gibt einen Überblick über das Herkunftsbundesland und die Geschlechterverteilung der Interviewpartner.

 

Bundesland

 

Anzahl Interviewpartner

 

davon weiblich

 

davon männlich

Brandenburg

5

1

4

Berlin

6

3

3

Nordrhein-Westfalen

4

2

2

Niedersachsen

2

2

0

Bayern

4

3

1

5 Bundesländer

21 Interviews

11

10

 

Tabelle 2 veranschaulicht das Alter der Interviewpartner. Die Altersspanne beträgt 24-71 Jahre.

 

Alter der Interviewpartner ø 45

20-30

30-40

40-50

50-60

60-70

> 70

2

6

6

5

1

1

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Auswertungsvorgehen

Methodologisch und methodisch orientieren wir uns in der Auswertungsphase der Interviews sehr stark an dem qualitativen Paradigma, insbesondere der Grounded Theory nach Strauss/Corbin (1996). Hierbei gilt es, aus dem Datenmaterial im induktiv-deduktiven Wechselspiel eine gegenstandsverankerte Theorie zu entwickeln, die Aufschluss über die Lernprozesse funktionaler Analphabeten gibt. Dies soll durch den Einsatz verschiedener Kodierverfahren gelingen, anhand derer die Daten sukzessive „aufgebrochen“ und somit Zusammenhänge zwischen den Begründungen der Interviewpartner hergestellt werden können.

Die subjektwissenschaftliche Perspektive gekoppelt mit dem Auswertungsverfahren der Grounded Theory ermöglichen es uns, den subjektiven Sinn der Befragten, beispielsweise in Form subjektiver Theorien über die eigene Lebens- und Lerngeschichte in der Gesellschaft, verstehen und rekonstruieren zu können. Dabei stehen die subjektiven Begründungen für Lernbarrieren und Lernanlässe im Mittelpunkt unserer Betrachtung.

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Ergebnisse

Im Projekt SYLBE wurde erstmalig ein lerntheoretischer Zusammenhang zwischen biographischen und aktuellen Lernbegründungen und Lernhandlungen funktionaler Analphabeten eruiert. Dabei wurde deutlich, dass individuelles Lernen im hohen Maße von Vergesellschaftungsmöglichkeiten bzw. gesellschaftlicher Teilhabe abhängig ist.  In der Untersuchung der Biografien funktionaler Analphabeten lassen sich markante Exklusionserfahrungen und damit verbunden problematische Lernprozesse identifizieren, die das Erlernen der Schriftsprache behindern. Insbesondere in primären (Familie) und sekundären (Schule) Sozialisationsfeldern scheitert nahezu die Aneignung gesellschaftlich normierter Haltungen, die für Lernprozesse notwendig sind. Fehlende Anerkennungsstrukturen im Kindes- und Jugendalter gehen einher mit mangelnder Verantwortungsübernahme für das eigene Lernen. Erst im weiteren Lebensverlauf machen funktionale Analphabeten Inklusionserfahrungen in verschiedenen Gesellschaftsfeldern. Die dadurch erlebbaren Handlungsproblematiken können Diskrepanzen zwischen den mir verfügbaren und den angestrebten Handlungsmöglichkeiten hervorrufen und Lernprozesse in Gang setzen (vgl. Holzkamp 1995). Dies kann sich in der Aufnahme eines Alphabetisierungskurses ausdrücken.

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Literatur

Döbert-Nauert, Marion (1985): Verursachungsfaktoren des Analphabetismus. Deutscher Volkshochschulverband e.V. Bonn-Frankfurt.

Egloff, Birte (1997): Biographische Muster funktionaler Analphabeten. Eine biographieanalytische Studie zu Entstehungsbedingungen und Bewältigungsstrategien von funktionalem Analphabetismus. Frankfurt am Main.

Groeben, Norbert/Wahl, Diethelm/Schlee, Jörg/Scheele, Brigitte (1988): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien: Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen.

Holzkamp, Klaus (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/New York.

Linde, Andrea (2008): Literalität und Lernen. Eine Studie über das Lesen- und Schreibenlernen im Erwachsenenalter. Münster/New York/München/Berlin.

Namgalies, Lisa (1990): Wie entsteht Analphabetismus? Lern- und Lebensgeschichten von Analphabeten. In: Namgalies, Lisa/Heling, Barbara/Schwänke, Ulf: Stiefkinder des Bildungssystems, Lern- und Lebensgeschichten deutscher Analphabeten, Hamburg, S. 15-130.

Oswald, Marie-Luise/Müller, Horst-Manfred (1982): Deutschsprachige Analphabeten. Lebensgeschichte und Lerninteressen von erwachsenen Analphabeten. Stuttgart.

Schneider, Johanna/Wagner, Harald (2008): Charakteristika spezifischer Gruppen von Menschen mit unzureichender Schriftsprachkompetenz. In: Schneider, Johanna/Gintzel, Ullrich/Wagner, Harald (Hrsg.): Sozialintegrative Alphabetisierungsarbeit, Bildungs- und sozialpolitische sowie fachliche Herausforderungen, Münster/New York/München/Berlin, S. 47-62.

Strauss/Corbin (1996): Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim.

Wagner, Harald (2008): Sozialstrukturelle Unterprivilegierung und Funktionaler Analphabetismus. In: Schneider, Johanna/Gintzel, Ullrich/Wagner, Harald (Hrsg.): Sozialintegrative Alphabetisierungsarbeit, Bildungs- und sozialpolitische sowie fachliche Herausforderungen, Münster/New York/München/Berlin, S. 23-29.

Witzel, Andreas (2000): Das problemzentrierte Interview [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1), Art. 22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0001228.

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